22.07.2021
Expertenrat

In seinem Fachbeitrag beschreibt Dr. David Heinze langfristige Strategien und Konzepte zur klimaneutralen oder emissionsarmen Erzeugung von Strom und Wärme für den Chemiepark GENDORF.

Noch in diesem Jahr soll in Deutschland ein verschärftes Klimaschutzgesetz in Kraft treten, nach dem Deutschland bis 2045 (statt bisher 2050) klimaneutral werden soll. Auslöser der Novelle war ein wegweisender Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der von der Bundesregierung ambitioniertere Ziele bis 2030 sowie einen konkreten Zielpfad für die Zeit danach gefordert hatte. Es wird immer deutlicher: Deutschland steht vor einer komplexen Transformationsaufgabe, die bereits jetzt in allen Bereichen der Gesellschaft entschlossen umgesetzt werden muss.

Auch InfraServ Gendorf stellt sich dieser Aufgabe – nicht zuletzt, um die steigende Nachfrage der Standortkunden nach klimaneutralem Dampf und Medien wie z.B. Sauerstoff zu bedienen. Da der Großteil der Treibhausgasemissionen der ISG durch den eigenen Stromverbrauch sowie die Lieferung von Prozessdampf an die Standortkunden entsteht, besteht vor allem hier Handlungsbedarf. Deshalb wurde im März 2021 das Projekt „EverGreen“ ins Leben gerufen. In diesem Projekt entwickeln fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter langfristige Strategien und Konzepte zur klimaneutralen oder emissionsarmen Erzeugung von Strom und Wärme, die Zukunftspotential für den Einsatz im Chemiepark haben.

Klimaneutral bedeutet Netto-null-Emission

Klimaneutralität kann erreicht werden, wenn Treibhausgasemissionen auf ein Minimum reduziert werden und restliche Emissionen, die nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand vermieden werden können, an anderer Stelle ausgeglichen werden. Als Treibhausgase werden neben Kohlenstoffdioxid (CO2) auch einige weitere Gase wie Methan und Distickstoffoxid verstanden. Die Treibhausgasemissionen bei InfraServ Gendorf fallen fast ausschließlich als Kohlenstoffdioxid bei der Energieerzeugung im Kraftwerk an.

Im Fokus: Die Energieversorgung bis 2045

Derzeitig spielt das Kraftwerk der ISG die zentrale Rolle für die Energieversorgung des Chemieparks. Das Projekt betrachtet zwei Zeithorizonte. Zum einen wird ermittelt, welche mittelfristigen Maßnahmen den Kraftwerksbetrieb bis 2032 begleiten und ergänzen können, zum anderen werden mögliche Strategien für die langfristige Zukunft der Energieversorgung bis 2045 entworfen. Fokus ist dabei ein möglichst breiter Überblick über unterschiedlichste Lösungsansätze: Erneuerbare Energiequellen wie Solarenergie oder Windkraft, alternative Brennstoffe wie Biomasse oder Wasserstoff, Energieeffizienz-Maßnahmen, Technologien zur Abscheidung und Nutzung von CO2 (CCU) sowie vertragliche Konzepte wie z.B. „Power Purchase Agreements“ (PPA).

Potentiale ermitteln, Hürden identifizieren

Das Team hat dabei die Aufgabe, die Themen unvoreingenommen zu betrachten – denn selbst wenn ein Konzept derzeit noch nicht marktreif oder wirtschaftlich ist, kann es in 10 oder 20 Jahren eine wesentliche Rolle spielen.
Andererseits kann es jedoch durchaus unüberwindbare Hürden geben, die der Nutzung im Wege stehen. Deshalb wird zunächst das sogenannte „technische Potential“ ermittelt, das angibt, welches Energieangebot unter Berücksichtigung technischer Einschränkungen und der vorhandenen Ressourcen verfügbar gemacht werden kann. So wird beispielsweise das Potential für Photovoltaik im Chemiepark durch die verfügbaren Flächen (Dächer, Parkplätze, usw.) und deren technische Eigenschaften (z.B. Traglast) bestimmt. Das technische Potential liefert also eine Aussage darüber, welchen Beitrag zur Energieversorgung eine Technologie unter optimalen Bedingungen leisten könnte.
Im Anschluss daran wird das „ausschöpfbare Potential“ abgeschätzt, das zusätzlich gesellschaftliche, gesetzliche, regulatorische und wirtschaftliche Einflüsse berücksichtigt. So wird beispielsweise die Nutzung von Windkraft in Bayern durch gesetzlich vorgegebene Mindestabstände stark eingeschränkt. Das ausschöpfbare Potential berücksichtigt derartige „weiche“ Hürden und zeigt somit auf, welchen Beitrag eine Technologie unter den aktuellen Rahmenbedingungen tatsächlich leisten kann.
Wenn technisches und ausschöpfbares Potential weit auseinanderliegen, so liegt dies häufig an regulatorischen Hemmnissen oder mangelnder Wirtschaftlichkeit. In diesem Fall bewertet das Projektteam, ob, wann und wie sich diese Hürden überwinden lassen: Gibt es Förderprogramme? Sind Gesetzesänderungen absehbar? Wie entwickeln sich die Marktpreise in Zukunft? So können die zukünftigen Rollen der Technologien beurteilt und die richtigen Weichen gestellt werden, um vielversprechenden Konzepten zum Durchbruch zu verhelfen.

Gesamtkonzept aus vielfältigen Bausteinen

Noch ist es zu früh für ein erstes Zwischenfazit des Projekts. Aber bereits jetzt deutet sich an, dass es kein Allheilmittel für grüne Energie geben wird, sondern die Zukunft der Energieversorgung des Chemieparks aus vielfältigen, ineinandergreifenden Bausteinen zusammengesetzt sein wird. Angesichts des ambitionierten Klimaschutzpfads ist es gut möglich, dass die ersten Bausteine früher kommen werden, als man es noch vor kurzem für möglich gehalten hätte.

 

Den Beitrag verfasste Dr. David Heinze.
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